Von Existenznot bis zum Recht auf Minderheitenbildung – AGSM-Jahrestreffen in Zagreb offenbart gravierende Gegensätze

13.11.2023

Beengt, belastend und besorgniserregend – die Situation vieler Frauen aus Minderheitengemeinschaften in wirtschaftlich schwach entwickelten Gebieten war das Thema der ersten Debatte des diesjährigen AGSM-Seminars in Zagreb, Kroatien, und diese ging unter die Haut. Auf dem Podium wurde anhand von emotionalen Schilderungen deutlich, wie schwierig die Situation vieler Frauen, die in Kroatien einer ethnischen Minderheit angehören, ist. In den wirtschaftlich weniger entwickelten Gebieten, in denen es an grundlegender Infrastruktur und sozialen Diensten mangelt, ist der Großteil der Betreuungsarbeit, mit der die lokalen Gemeinschaften aufrechterhalten werden, eine unverhältnismäßig hohe Belastung für das tägliche Leben der Frauen.

Insbesondere in den ländlichen Gebieten der Regionen Kordun und Banija, letztere immer noch gezeichnet vom schweren Erdbeben 2020, ist die Lebenssituation dramatisch, da es an grundlegender Infrastruktur wie Wasser, Strom und medizinischer Versorgung mangelt. Da sind Projekte, die Jelena Nestorović vom Nationalrat der Serben in Kroatien (SNV) organisiert, ein Segen. „Wir versuchen damit, Frauen über ihre Rechte aufzuklären und sie zu befähigen, eine höhere Ausbildung zu absolvieren“, schilderte sie.

„Frauen in Minderheitengemeinschaften" lautete das Thema der ersten Podiumsdiskussion beim AGSM-Seminar. Credit (alle Fotos): Sandro Lendler/Fotofobija

Somit waren die Teilnehmer*innen der diesjährigen Jahrestagung der FUEN-Arbeitsgemeinschaft der slawischen Minderheiten (AGSM) in Zagreb, Kroatien, direkt mitten in einem der großen Themen, welche die gastgebende Minderheit der Serbinnen und Serben in Kroatien beschäftigt. Die Tagung fand vom 19. bis 22. Oktober statt. Insgesamt nahmen 50 Personen teil, davon 14 aus den Reihen der gastgebenden serbischen Minderheit in Kroatien und 36 externe Teilnehmer*innen aus anderen Minderheiten – z.B. Molisekroaten aus Italien, Sorben aus Deutschland oder Pomaken aus Griechenland. Sie deckten ein erfreulich breites Länder- und Minderheitenspektrum ab: 13 verschiedene Minderheiten aus 12 Ländern waren vertreten.

Auf dem Programm stand außerdem der Austausch mit politischen Vertrer*innen auf lokaler und nationaler Ebene und eine Podiumsdiskussion zu Minderheitenrechten in Theorie und Praxis – und das an einem ganz besonderen Ort: dem geschichtsträchtigen Versammlungssaal im Rathaus von Zagreb. Willkommensworte an die AGSM-Delegation richteten Aleksandar Milošević, SNV-Generalsekretär, Olivia Schubert, FUEN-Vizepräsidentin, Marta Kiš und Rada Borić, Mitglieder der Stadtversammlung und Vertreterin des Bürgermeisters, Nemanja Relić, Entsandte des Vizepräsidenten der kroatischen Regierung sowie Furio Radin, Vizepräsident des kroatischen Parlaments.  

Im historischen Versammlungssaal im Rathaus von Zagreb gab es Begegnungen mit politischen Vertreter*innen aus Kroatien.  

In der anschließenden Diskussionsrunde erfuhren die Teilnehmer*innen, dass es in Kroatien 22 anerkannte nationale Minderheitengibt, die alle in der Verfassung erwähnt werden. Die Ebenen ihrer politischen Partizipation reichen von den Gemeinderäten über die Stadt- und Regionalräte bis hin zu den Abgeordneten des Parlaments, was Armin Hodžić, vom Minderheitenrat der Stadt Zagreb gut darstellen konnte. Zur Sprache kam auch, dass es auf dem Papier zwar einen umfangreichen Schutz und politische Unterstützung für Minderheiten gebe, die Umsetzung aber wie so oft eine Herausforderung darstellt. 

Tanja Novotni Golubić von der tschechischen Minderheit in Kroatien schilderte Gründe für den Bevölkerungsrückgang. 

Neben den Debatten und Exkursionen rund um die Gastgeber-Minderheit tauschten sich die Teilnehmer*innen des Jahrestreffens über die aktuelle Situation in ihren jeweiligen Minderheiten aus, blickten auf die AGSM-Tätigkeit im vergangenen Jahr zurück und nahmen zukünftige Projekte in den Blick. Vorgestellt wurde die jetzt auch in mazedonischer Sprache vorliegende AGSM-Broschüre (hier online einsehbar).

Als neuer AGSM-Sprecher wurde Dr. Hartmut Leipner (Foto) vom Bund Lausitzer Sorben (Domowina) aus Deutschland einstimmig gewählt. Er folgt auf Dr. Angelika Mlinar, Kärntner Slowenin, die das Amt aus beruflichen Gründen abgeben musste.

Bei einer Exkursion in die Region Banija, die größtenteils von der serbischen Minderheit in Kroatien bewohnt wird, konnten sich die Teilnehmer*innen schließlich ein persönliches Bild der Situation nach dem zerstörerischen Erdbeben vom Dezember 2020 machen und während einer Podiumsdiskussion die Herausforderungen vor Ort aus verschiedenen Perspektiven erfahren. Bei der Naturkatastrophe wurden die Häuser und Lebensgrundlagen der Bewohner*innen schwer beschädigt oder zerstört. Der Nationalrat der Serben in Kroatien mit seinen lokalen Zweigstellen war bei sozialen und Wiederaufbauprojekten sehr aktiv und konnte die Bewohner unbürokratisch schnell unterstützen – auch dank der FUEN und ihren Mitgliedsorganisationen, die 2020/2021 bei einer Spendenaktion Geld für die vom Erdbeben betroffene Minderheit sammelten.

Die Exkursion führte unter anderem in die Stadt Glina, in der die Nachwirkungen des verheerenden Erdbebens 2020 sich noch deutlich zeigen.  

Eine Podiumsrunde gewährte Einblicke in die humanitäre Hilfe durch die Minderheitenorganisation in der Erdbebenregion Banija. 

Anschließend führte die Exkursion nach Vrginmost, eine der Gemeinden, in denen die serbische Minderheit die Mehrheit bildet. Vrginmost wurde erst jüngst umbenannt, nachdem während des Jugoslawienkrieges die Stadt wegen Teritorialkonflikten in „Gvozd“ umbenannt wurde. Hier wurde auch das das Denkmal des Volksbefreiungskampfes „Petrova gora“ (siehe Titelfoto) und das Partisanenkrankenhaus besichtigt.

Die Erinnerungskultur und die Aufarbeitung vergangener Konflikte war bei allen Stationen der Exkursion ein wichtiges Thema, sowohl was die Zeit nach den Weltkriegen, dem Widerstandskampf als auch nach dem letzten Jugoslawienkrieg angeht. Es wurde deutlich, dass die Aufarbeitung größtenteils noch in den Kinderschuhen steckt.

Ein herzlicher Dank gilt des Gastgebern vom Nationalrat der Serbinnen und Serben in Kroatien (SNV) für die gute Zusammenarbeit bei der Organisation des Seminars.

Die AGSM

Die Arbeitsgemeinschaft Slawischer Minderheiten ist mit 32 Mitgliedsorganisationen eine im FUEN-Netzwerk bereits gut etablierte Arbeitsgemeinschaft, deren jährliche Seminare der Slawischen Minderheiten in Europa, jeweils an wechselnden Orten organisiert, eine lange Tradition haben. Im Jahr 2017 wurde die Koordination der AGSM durch die FUEN-Koordinationsstelle übernommen, womit langjährige Bestrebungen der Arbeitsgemeinschaft nach Weiterentwicklung und Professionalisierung ihrer Aktivitäten endlich realisiert werden konnten.

Weitere Informationen sowie eine Bildergalerie zum Seminar unter https://agsm.fuen.org